Jacob Taubes an Michael Theunissen, 23. September 1969, DLA Marbach, Foto: Chris Korner. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Ethan & Tania Taubes (New York City) und Dr. Martin Treml (Leibniz-Zentrum für Literatur-und Kulturforschung, Berlin)

»Zweierlei bewegt mich, Ihnen zu schreiben.« Jacob Taubes zwischen Wissenschaft und Politik

 

 

»Zweierlei bewegt mich, Ihnen zu schreiben.« Jacob Taubes zwischen Wissenschaft und Politik

 

Vor gut 50 Jahren, am 23. September 1969, wendet sich der Religionssoziologe, Philosoph und Judaist Jacob Taubes (1923–1987) mit einem drei maschinengeschriebene Bögen umfassenden Brief an Michael Theunissen (1932–2015), zu diesem Zeitpunkt Professor für Philosophie an der Universität Bern, wo er als ›linker Hegelianer‹ gilt.

 

In der Einleitung des Briefes – ein Antwortschreiben auf eine Nachricht von Theunissen – erwähnt Taubes (seit dem 19. August 1961 Ordinarius für Judaistik und Hermeneutik an der Freien Universität Berlin) u. a. den französischen Jesuiten, Theologen und Hegel-Forscher Gaston Fessard (1897–1978), der bei Alexandre Kojève (1902–1968), dem ›Wiederentdecker‹ Hegels in Frankreich, studiert hatte. Zudem gibt Taubes einen Einblick in sein nomadisches Leben: Seit 1960 reise er »hin und her zwischen Amerika und Berlin«. Zwar hat er seine Stelle an der Columbia University in New York schon 1966 aufgegeben – in einem verringerten Reisepensum spiegelt sich das allerdings nicht wider.

 

Bereits im folgenden Absatz kommt Taubes zum eigentlichen Anlass seines Briefes: »Zweierlei bewegt mich«, so der Philosoph, »Ihnen zu schreiben.« Zunächst versucht Taubes, der seit 1963 als Verlagsberater für Suhrkamp tätig ist, Theunissen zu überzeugen, dieser möge sein neues Hegel-Buch bei Suhrkamp – und nicht bei de Gruyter – erscheinen lassen. Er, Taubes, der gemeinsam mit Dieter Henrich (*1927), Jürgen Habermas (*1929) und Hans Blumenberg (1920–1996) die seit Winter 1966 erscheinende Suhrkamp-Reihe Theorie herausgibt, schreibe hier »nicht als Parteigänger von Suhrkamp sondern als Freund von Theunissen und den Studenten«. Sein Argument: »[D]ie Preise de Gruyters [liegen] jenseits der Geldbörse eines Akademikers […] und [kommen] für einen Studenten überhaupt nicht in Frage […]«! So sei es auch bei Theunissens erstem de-Gruyter-Titel gewesen (s. u.), dessen Preis Taubes mit »sechzig oder siebzig DM« beziffert.

 

Rückblickend zeigt sich, dass es Taubes nicht gelungen ist, Theunissen zum Boykott jener »unmoralisch[en] […] Kalkulationen« zu bewegen: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat erscheint 1970 bei de Gruyter in Berlin, nicht bei Suhrkamp. Einige Jahre später, 1978, kann Suhrkamp dann aber doch einen Hegel-Titel von Theunissen verbuchen: Sein und Schein: Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Mit einem Ladenpreis von DM 48 (was inflationsbereinigt etwa € 60 im Jahr 2020 entspricht) ist der 502-seitige Ganzleinenband dann auch verhältnismäßig erschwinglich – zumindest im Vergleich zu Theunissens 1965 bei de Gruyter erschienener Habilitationsschrift Der Andere: Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (jenes von Taubes angesprochene »erste Werk [bei de Gruyter]«), die als 538-seitiger Ganzleinenband immerhin DM 68 (inflationsbereinigt etwa € 145) kostet. – Taubes jedoch hat Suhrkamp zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen: 1977 wird er »aus dem Herausgeberkreis der Reihe Theorie herausgedrängt«, wie Jerry Z. Muller es in seinem Aufsatz Reisender in Ideen: Jacob Taubes zwischen New York, Jerusalem, Berlin und Paris (2013) formuliert.

 

Taubes’ zweites Anliegen ist anderer Natur und zeichnet ihn (neben Margherita von Brentano) als einen der wenigen Vertreter der Professorenschaft aus, die mit der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre sympathisieren: Er berichtet von einem Treffen mit Alfred Willi Rudolf »Rudi« Dutschke (1940–1979), dem Wortführer jener Bewegung, und seiner Frau Gretchen Dutschke-Klotz (*1942) in London. Im Rahmen eines »fünfstündige[n] Gespräch[s]« habe man »die verschiedenen Möglichkeiten besprochen«, wo und wie Rudi (und Gretchen) nach dem Attentat vom 11. April 1968 am aussichtsreichsten leben und studieren könnten. Die Dutschkes sind ab Juni 1968 über die Schweiz und Italien nach Großbritannien geflohen, wo die Kleinfamilie zunächst eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhält. Auf lange Sicht – und darin scheinen Taubes und Theunissen sich einig zu sein – wäre es allerdings ein »entsetzlicher Verlust für die Studentenbewegung«, wenn Rudi Dutschke nicht wieder »im deutschen Sprachkreis« »intellektuell und politisch agieren« könne, so Taubes’ Einschätzung. Folglich unterstützt Taubes die von Theunissen angestrebte »Berner Lösung«; schließlich sei es »zu viel verlangt und letztlich perspektivenlos, Rudi in England für’s Studium und für’s Leben anzusiedeln.«

 

Jedoch stellen sich Taubes’ im vorliegenden Brief formulierte Bemühungen rückblickend wiederum als vergeblich heraus: Statt in Bern, leben die Dutschkes vorerst in London bei Erich Fried (1921–1988) und Catherine Boswell Fried (1936–2015) – und ab 1970 in Cambridge. Dort kann Dutschke, betreut von der renommierten Ökonomin Joan Robinson (1903–1983), sein Promotionsstudium aufnehmen. Die dafür nötige finanzielle Unterstützung verdankt Dutschke u. a. Theunissen: Dieser nämlich setzt sich in seiner Funktion als Gründungsmitglied der 1970 eingerichteten Heinrich-Heine-Stiftung für Philosophie und Kritische Wissenschaft (neben Margherita von Brentano, Helmut Gollwitzer (1908–1993) und der Stifter-Familie Morat) maßgeblich dafür ein, dass Dutschke ab September 1970 für zwei Jahre ein großzügiges Monatsstipendium von DM 2.000 zugesprochen wird. Doch bereits Ende Januar 1971 müssen dieser, seine Frau Gretchen und die gemeinsamen Kinder Hosea-Ché (*1968) und Polly-Nicole (*1969) Großbritannien als ›undesirable aliens‹ wieder verlassen – die Familie zieht nach Aarhus, Dänemark.

 

An die zwei hauptsächlichen Anliegen seines Schreibens – Theunissens bevorstehende Hegel-Publikation und die Situation Rudi Dutschkes – schließt sich ein letzter Absatz an, der Einblicke in den deutschen und schweizerischen Hochschul- und Wissenschaftsbetrieb um 1968/1969 bietet. Taubes begrüßt es, dass Theunissen »sich der Habilitation von Hans Heinz Holz annehmen« wolle. Das 1970 von Theunissen an der Universität Bern eingeleitete Verfahren soll allerdings anders ausgehen, als Taubes es sich erhofft hat: Der marxistische Philosoph Holz (1927–2011) wird – im Anschluss an ein aufsehenerregendes hochschulöffentliches Hearing – abgewiesen. Nicht nur in Berlin sind also die Verhältnisse »so verrückt, daß es ein Wagnis [gewesen] wäre«, Holz’ Habilitation dort einzuleiten (so Taubes’ Befürchtung) – auch im schweizerischen Bern zeigt der von Taubes diagnostizierte »Spuk der Fakultät« seine Wirkung. Ein Jahr später wird Holz schließlich auf eine Philosophie-Professur an der Universität Marburg berufen und auch Theunissen selbst zieht Konsequenzen: Er folgt im selben Jahr einem Ruf nach Heidelberg, sowie – von 1980 bis 1998 – an die Freie Universität Berlin.

 

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Neben einer fragmenthaften Momentaufnahme der deutschsprachigen Hegel-Forschung um 1969 gibt Taubes’ Brief einen Einblick in die politischen Debatten der Zeit sowie den Wissenschafts- und Hochschulbetrieb. Die organische Vermischung von Zeitgeschehen, Verlagsarbeit und Hochschulpolitik ist geradezu typisch für Taubes’ Wirken: Wissenschaftliche und politische Interessen fließen für ihn untrennbar zusammen. Das zeigt sich sowohl im beharrlichen Appell bezüglich Theunissens Hegel-Publikation, wie auch im besorgten Engagement um Rudi Dutschkes akademische Zukunft. Vergleichbares lässt sich an anderen Zeugnissen von Taubes ablesen, etwa an seinem auf den 29. Mai 1968 datierten Memorandum (sowie dessen Nachtrag vom 4. Juni 1968) an Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld und Theorie-Mitherausgeber Jürgen Habermas.

 

Hagen Verleger (Berlin), Institut für Kunst-, Design- und Medienwissenschaften, Muthesius Kunsthochschule, Kiel