50 Jahre »1968«: Im Jahr 2018 richtet sich die Aufmerksamkeit auf die politischen, kulturellen und sozialen Ereignisse, die unter dem Label »1968«, mehr Chiffre als Datierung, zusammengefasst werden. Bislang wurde »1968« in erstaunlicher nationaler Verengung erzählt und rekonstruiert. Während sich die Archive der Protagonisten von »1968« sukzessive öffnen, ermöglicht die detaillierte Erfassung von Drucken und Tonaufnahmen, Manuskripten und Briefen einen Blickwechsel: von einer autor-, nation- und kanonzentrierten Heuristik zu einer Heuristik der Orte und der Zirkulation, der Begriffe und der Ideen, der Netzwerke und Konflikte.

Allein im Deutschen Literaturarchiv werden gegenwärtig ca. 100 Nachlässe, Vorlässe sowie Verlags- und Redaktionsarchive, die für »1968« relevant sind, für die Forschung geöffnet. Auch scheinbar nationalliterarisch begrenzte Sammlungen weisen zahlreiche globale Verbindungen auf. Die globalen Achsen der Bestände zu »1968« führen nicht nur nach Paris oder Berkeley, sondern auch an die US-amerikanische Ostküste und in den Mittleren Westen, nach Lateinamerika und in die Karibik. Ein solcher Befund globaler Präsenz gilt auch für die Bestände zu »1968« in den Partnerarchiven in den USA und in Israel, in Frankreich sowie in Lateinamerika. Erst durch die Verknüpfung werden die Archivbestände aufeinander hin lesbar und Ideenkonflikte ersichtlich.

Das Interesse gilt den internationalen, ideengeschichtlichen Konfliktlinien, die hinter den Ereignissen von »1968« liegen und quer zu den nationalen und regionalen Kontexten verlaufen: Freiheit, soziale Gleichheit, Partizipation, Authentizität, Souveränität und Autonomie sind dabei einige der Leitbegriffe, mithilfe derer sich die globalen Ideenkonflikte rekonstruieren lassen. Neu vermessen lässt sich so eine politische Ideenlandschaft – in den sogenannten Zentren von »1968« wie der Peripherie –, deren Strahlkraft bis in die jüngere Gegenwart reicht. Betont werden dabei bewusst die ideengeschichtlichen und begrifflichen Vorannahmen und Konsequenzen, die sich in das literarische und künstlerische Schaffen jener Zeit eingeschrieben haben. Weniger die hinreichend erforschte Ereignisgeschichte soll demnach im Zentrum stehen, sondern die Geschichte, wie sie in Ideen wirkt und fortlebt.

In dem Projekt arbeiten zwei Forschende, die im ersten Projektjahr zunächst die Bestände am DLA erforschen werden, eine wissenschaftliche Koordinatorin sowie eine Projektbibliothekarin, ebenso ein Netzwerk von wissenschaftlichen Gästen und kooperierenden Projekten. Ab 2018 werden die wissenschaftlichen Mitarbeiter, nach den regionalen Modulschwerpunkten unterschieden, in Archive weltweit reisen, um den Transfer der aufgenommenen Ideenlinien anhand globaler Bestände aufzeigen zu können. »1968: Ideenkonflikte in globalen Archiven« wird von der VolkswagenStiftung über den Zeitraum von drei Jahren in der Linie »Offen – Für Außergewöhnliches« gefördert. Die Ergebnisse der Forschungs- und Erschließungsarbeit werden in Konferenzen, Workshops und Vorträgen der akademischen und breiteren Öffentlichkeit präsentiert. Ankündigungen, Verlauf und Ergebnisse sämtlicher Aktivitäten werden im Forschungsportal dokumentiert.

Modul 1: Nordamerika

In den Ereignissen, die heute unter der Chiffre »1968« zusammengefasst werden, und in der Bilderwelt und kollektiven politischen Imagination der gesamten 1960er Jahre spielten die USA von Beginn an eine herausgehobene Rolle. Sei es das Engagement gegen den Krieg in Vietnam, das ambivalente Verhältnis zur US-amerikanischen Konsumkultur, aufmerksame Anteilnahme an den Protesten in Berkeley oder New York und nicht zu vergessen die zahlreichen intellektuellen wie politischen Kontakte in die Vereinigten Staaten: All dies trug dazu bei, dass es sich bei »1968« um ein genuin transatlantisches Ereignis handelte, dessen Wege und Spuren bis nach Lateinamerika oder Israel reichen.

Auch von der anderen Seite des Atlantiks blickte man gespannt nach Frankfurt am Main oder Berlin; inspiriert von der Kritischen Theorie wurden Studienaufenthalte in der Bundesrepublik organisiert, zentrale Texte der Studentenbewegung übersetzt, Kontakte zwischen Theoriezeitschriften geknüpft. Das amerikanische Exil von Autoren wie Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer einerseits sowie die anhaltende Wirkung von nicht zurückgekehrten Emigranten in den USA andererseits (wie Hannah Arendt, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, George L. Mosse oder Reinhard Bendix) beförderten ein wechselseitiges Verhältnis gesteigerter Aufmerksamkeit.

Zugleich ist das Bild, das in jener Zeit entstand, unvollständig und durch die jeweilige Bedürfniskonstellation geprägt. Während sich das Interesse von amerikanischer Seite fast ausschließlich auf die im weitesten Sinne linkshegelianische Fraktion des politischen Lagers konzentrierte, entgingen dem deutschen Blick nicht nur die teils vollkommen anders gelagerten theoretisch-philosophischen Hintergründe, sondern auch die politische wie geografische Binnendifferenzierung der amerikanischen Neuen Linken. Die gedächtnispolitische Konzentration auf den Campus von Berkeley lässt leicht vergessen, welche Rolle andere Städte in den USA mit ihren jeweiligen intellektuellen Strukturen gespielt haben: New York (Columbia University, New School) und Chicago (University of Chicago, Northwestern University), aber auch Madison (University of Wisconsin) und Chapel Hill (University of North Carolina).

Dass in den USA und Europa durchaus unterschiedliche Traditionsbestände eine Rolle spielten, andere historische Erfahrungen evoziert, verdeckt oder transformiert wurden, und dass die globalen Ereignisse von 1968 von einer eklatanten Ungleichzeitigkeit geprägt waren, trat hinter dem Eindruck der Gleichzeitigkeit zurück.
Das Forschungsmodul rückt die Erforschung jener Ungleichzeitigkeiten der transatlantischen Situation in den Mittelpunkt. Zu berücksichtigen sind dabei nicht nur die linken Vordenker, sondern auch Gegenfiguren wie Leo Strauss und Vermittler wie Jacob Taubes. Das Ziel ist eine ideengeschichtliche Kartierung, die »1968« im größeren Kontext differenzierter Denktraditionen begreift. Aus der philosophisch wie historisch angeleiteten Konfrontation verschiedener Großbegriffe der Zeit – Theorie, Praxis, Ästhetisierung, Politik, Revolution etc. – soll eine wechselseitige Erhellung von Alter und Neuer Welt möglich werden. Grundlage dafür sind neben den Beständen des Deutschen Literaturarchivs Marbach zahlreiche Archive amerikanischer, aber auch israelischer Universitäten.

Modulverantwortlicher Forscher

Dr. Robert Zwarg
DLA Marbach

Netzwerk Nordamerika

Modul 2: Lateinamerika & Karibik

Mit den globalen Revolten der späten 1960er-Jahre ging eine Transnationalisierung der Lektüre einher, die nicht nur theoretische, sondern auch literarische Werke umfasste. In Lateinamerika und der Karibik wurden u.a. die Schriften von Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Henri Lefebvre gelesen, aber auch Schriften von Jean-Paul Sartre und Albert Camus, die großen Einfluss auf die Entwicklung der Befreiungstheologie und -philosophie hatten. Zudem gingen zahlreiche lateinamerikanische und karibische Autoren in den 1960 und 1970er auf der Flucht vor den Militärdiktaturen nach Europa, v.a. nach Paris, wo sie nicht nur zu Zeitzeugen der europäischen Studentenbewegungen wurden, sondern auch aktiver Teil der dortigen Intellektuellenkreise waren und in verschiedenen Publikationsorganen mitwirkten.

Umgekehrt kam es in Europa zum sogenannten lateinamerikanischen «Boom«. Zwischen 1966 und 1980 erschienen nicht nur zahlreiche Romane lateinamerikanischer und karibischer Autor/innen (u.a. Julio Cortázar, Carlos Fuentes, Mario Vargas Llosa, Miguel Ángel Asturias, Darcy Ribeiro, Clarice Lispector, Severo Sarduy, Alejo Carpentier) zum ersten Mal auf Deutsch. Auch die poetische Prosa und Gedankenlyrik von Jorge Luis Borges wurde erstmals in deutscher Übersetzung herausgegeben, und die vorher nur in der DDR wahrgenommenen Werke Pablo Nerudas wurden auch in der Bundesrepublik rezipiert. Zum einen ist dadurch die Ideengeschichte von »1968« zwischen Europa und dem Südatlantik in besonderer Weise mit der Literaturgeschichte verwoben. Die Reflexion über soziopolitische Ereignisse und Ziele geht unmittelbar mit einer künstlerisch-ästhetischen Reflexion und Produktion einher. Dieses wechselseitige Verhältnis von Politik und Kunst spiegelt sich sowohl in den literarischen Werken als auch in den (transatlantischen) Briefwechseln der damaligen Zeit. Zum anderen spielen für den südatlantischen Kontext neben Intellektuellen und Schriftstellern vor allem Verlage eine zentrale Rolle, die den sogenannten »magischen Realismus« entscheidend mitprägten und als zentrale Akteure des Kultur- und Ideentransfers, aber auch der Aushandlung von Kultur- und Ideenkonflikten in Erscheinung traten.

Zudem nahmen die Verlage mit der in Lateinamerika erst seit 1968 einsetzenden Loslösung des kulturellen vom politischen Feld eine führende Position ein. Vor diesem Hintergrund sollen die im DLA aufbewahrten Archivmaterialien zur Schriftstellergeneration des sogenannten lateinamerikanischen »Boom« in den Blick genommen werden (Korrespondenzen mit Schriftsteller/innen und Intellektuellen sowie sämtliche Verlagsarchivalien), die sich v.a. im Siegfried Unseld Archiv finden, aber auch in den Archiven von Luchterhand, Rowohlt, Piper sowie der Deutschen Verlagsanstalt. Ausgehend von den Beständen am DLA sollen die globalen Achsen dieser Materialien nachverfolgt und die entsprechenden Archive als Gegenarchive betrachtet werden. Mit diesem Forschungsmodul wird die Verflechtung von soziopolitischen Ereignissen, politischen oder kulturellen Ideen und Literaturproduktion auf transnationaler Ebene in den Blick genommen.

Das zentrale Erkenntnisinteresse besteht dabei in der Rekonstruktion der komplexen Wechselwirkungen der Literatur- und Ideengeschichte von »1968« zwischen Europa und dem Südatlantik im Sinne einer Global Intellectual History. Der Fokus auf den lateinamerikanischen und karibischen Raum ermöglicht zugleich eine kritische Hinterfragung der häufig eurozentrisch gedachten globalen Intellektuellengeschichte.

Modulverantwortliche Forscherin

Dr. Lydia Schmuck
DLA Marbach

Netzwerk Lateinamerika & Karibik