Warenbegleitschein für Kleinbildaufnahmen von Walter Benjamins Manuskript »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, DLA Marbach, Foto: Jens Tremmel

Walter Benjamin zwischen Ost und West

In den Jahren 1967/68 erreichten die öffentlichen Angriffe auf Theodor W. Adorno als Walter Benjamins Nachlassverwalter und Herausgeber sowie Adornos Schüler Rolf Tiedemann ihren Höhepunkt. Adorno wurde nichts Geringeres vorgeworfen, als Benjamins Werk bewusst zu manipulieren, dessen marxistische Seite zu verdecken und die Herausgabe von unveröffentlichten Archivmaterialien zurückzuhalten bzw. zu verzögern. Besonders nachdrücklich formuliert wurde diese Kritik in einem Interview, das die Herausgeberin der Zeitschrift alternative Hildegard Brenner mit der DDR-Literaturwissenschaftlerin Rosemarie Heise im Herbst 1967 führte. Deren Angriffe unterschieden sich von anderen – seien es die von Helmut Heißenbüttel oder von Hannah Arendt – vor allem durch ihren Bezug auf das Benjaminsche Nachlassmaterial, das 1957 von Moskau aus ins Potsdamer Zentralarchiv gelangte. Heise und Brenner versuchten ganz bewusst, aus dem Zugang zum Potsdamer Archivmaterial argumentative Kraft zu schöpfen und gegen Adorno, dem dieses eben nicht zur Verfügung stand, in Stellung zu bringen. In diesen Beständen lag u.a. ein handschriftliches Manuskript des Aufsatzes Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, um das es auch in diesem Warenbegleitschein geht. Heise arbeitete seit 1966 im Auftrag des Aufbau Verlages an diesem Text, entzifferte das Manuskript und bereitete die Publikation in der DDR vor.

 

Leider sagt der Warenbegleitschein nichts über die Person aus, die die Sendung überbrachte. Ein Blick in die Quellen legt jedoch nahe, sie sich als Unterhändlerin oder Kurierin vorzustellen, war die Lieferung von Kleinbildaufnahmen des Baudelaire-Manuskriptes doch Teil einer Abmachung, den der Aufbau Verlag erbringen musste – übrigens in Abstimmung mit der Staatlichen Archivverwaltung der DDR. Im Gegenzug stimmte der Suhrkamp Verlag zu, dem Aufbau Verlag die Veröffentlichungsrechte für die Potsdamer Version des Baudelaire-Textes einzuräumen. Erst als der entsprechende Vertrag zwischen beiden Verlagen nach zähen Verhandlungen im Januar 1970 unterzeichnet worden war, gab der Aufbau Verlag grünes Licht für die Anfertigung der Kopie des Manuskriptes sowie deren Sendung gen Westen.

 

Doch mit der Ankunft der Kleinbildaufnahmen in Frankfurt kehrte keineswegs Ruhe in die Konflikte um Benjamins zerstreuten Nachlass ein. Aber deren Schauplätze veränderten sich, zumindest teilweise. Trugen diese 1968 noch die Namen alternative, Frankfurter Rundschau, Merkur oder Das Argument, wurden die im Modus der Philologie geführten politischen Gefechte nun vorwiegend in Fußnoten, Editorischen Berichten und Nachworten ausgetragen. Wer sich davon ein genaueres Bild machen möchte, schlägt das von Heise in der DDR herausgegebene Buch Das Paris des Second Empire bei Baudelaire von 1971 und den von Rolf Tiedemann mit einem Nachwort versehenen, 1974 im Suhrkamp Verlag (wieder-)erschienenen Band Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus auf. Neben der Tatsache, dass es sich dabei um Schlüsseltexte zum Verständnis des »späten« Benjamin handelt, können diese Publikationen ebenso als Dokumente des Streites um Benjamin im geteilten Deutschland gelesen werden, aber auch als Nachhall von 1968. Beide Momente sind in diesem Warenbegleitschein eingeschrieben.

 

Robert Pursche, Universität Basel