Schreiben von Heinz-Rudolf Sonntag an Günther Busch vom 14. März 1968;

DLA Marbach, Foto: Jens Tremmel

Der ›andere‹ Boom: Die Übersetzung lateinamerikanischer Sozialwissenschaftler bei Suhrkamp. Heinz-Rudolf Sonntag als Vermittler

Noch bevor der spätere Boom der lateinamerikanischen Literatur im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse 1976 in der BRD anfing, veröffentliche Suhrkamp, neben anderen kleineren westdeutschen Verlagen, einige lateinamerikanische Sozialwissenschaftler, die als Dependentistas weltweit Aufmerksamkeit erhielten. Die Dependentistas plädierten für eine Perspektive der Weltordnung aus Sicht der asymmetrischen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherien und damit für eine radikale Umkehr des Modernisierungsansatzes: Die Unterentwicklung wurde nicht länger als eine Art Übergangsphase der Länder der ›Dritten Welt‹ angesehen, sondern als Resultat eines historischen Prozesses der ungleichen Integration in den kapitalistischen Weltmarkt im Rahmen des Kolonialismus und Imperialismus. Diese Ideen wurden in der BRD als zentrales Argument für die kritische Diskussion um eine neue internationale Wirtschaftsordnung und die Rolle der westlichen Entwicklungshilfe in der ›Dritten Welt‹ wahrgenommen. Erstmals galten Lateinamerikaner in Europa als Theoretiker und wurden als solche rezipiert und anerkannt. Die Soziologen Heinz-Rudolf Sonntag (1940–2015) und Elena Hochman (1940) sowie der Politologe und Friedensforscher Dieter Senghaas (1940) leisteten einen entscheidenden Beitrag für die Übersetzung lateinamerikanischer Dependentistas im Suhrkamp Verlag, was eine breitere Zirkulation der Dependencia-Ansätze in der BRD ermöglichte.

 

Der hier präsentierte Brief, datiert auf den 14. März 1968, von Heinz-Rudolf Sonntag an Günther Busch, den Herausgeber der einflussreichen Reihe »edition suhrkamp« (es), ist ein besonderes Beispiel dieses Süd-Nord Vermittlungs- und Anerkennungsprozesses. Der damals erst kürzlich in Bochum promovierte marxistische Soziologe Sonntag und seine Frau Elena Hochman, Soziologin der Universidad Central de Venezuela und ab 1965 Stipendiatin und Mitarbeiterin der Sozialforschungsstelle Dortmund, zogen 1968 nach Caracas. Vor der Abreise schlug Sonntag die Publikation des Buches Aspectos teóricos del subdesarrollo von zwei in der BRD fast unbekannten venezolanischen Ökonomen vor: Héctor Silva Michelena und Armando Córdova, beide Vertreter der Dependencia-Theorie. »Warum sollte es nicht möglich und sinnvoll sein, einmal eine Arbeit über theoretische Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft in den unterentwickelten Ländern zu publizieren?«, fragt Sonntag und fügt verstärkend hinzu: »Das könnte eine gute Ergänzung sein«. Im März 1969 erschien der Band Die wirtschaftliche Struktur Lateinamerikas. Drei Studien zur politischen Ökonomie der Unterentwicklung (es 311) mit einem ausführlichen Vorwort beider Übersetzer (Sonntag/Hochman) unter dem Titel »Lateinamerika zwischen Theorie und Praxis«, in dem der Beitrag der Ökonomen im Zusammenhang mit einer langen Tradition des kritischen Denkens in Lateinamerika und im Dialog mit der Kritischen Theorie und der US-Imperialismus Debatte präsentiert wird. Im selben Jahr erschien ebenfalls der Essay »Christentum und politische Praxis: Camilo Torres« (Hochman/Sonntag, es 363) über das soziologische Denken des 1965 ermordeten kolumbianischen revolutionären Priesters, welcher die Debatte über Revolution, Gewalt und Christentum in der BRD weiter anregte. Die regelmäßigen Empfehlungen von Sonntag an Busch, die in den Briefwechseln zwischen 1968 und 1979 dokumentiert sind, zeigen die Bemühungen der migrierten Soziologen, die Vielfalt des Denkens in Süd- und Mittelamerika in der BRD bekannt zu machen. Neben vielen gescheiterten oder nicht angenommenen Vorschlägen vermittelte Sonntag drei weitere zentrale Publikationen: Im Jahr 1971 erschien das Buch Venezuela. Die Gewalt als Voraussetzung der Freiheit (Original: Venezuela violenta, 1967) des venezolanischen Ökonomen Orlando Araujo (es 494), welches eine Strukturanalyse Venezuelas zur Erklärung der Gewalt von unten und der Revolution darstellt, und im Jahr 1973 erschien das Buch Strukturelle Heterogenität und wirtschaftliches Wachstum von Armando Córdova (es 602), welches eines der Schlüsselkonzepte der Dependencia-Debatte präsentierte. Zentral und fast unbekannt ist die Vermittlung für die erste Publikation und Entdeckung des brasilianischen Anthropologen, Literaten und Essayisten Darcy Ribeiro bei Suhrkamp. Sonntag schickte die englische Version des Werkes Civilization Process an Busch mit der ausdrücklichen Empfehlung, Ribeiro für eine Veröffentlichung zu berücksichtigen. Das Buch mit Übersetzung und Einleitung von Sonntag erschien 1971 in der Suhrkamp-Reihe »Theorie«. Später folgten mehreren Übersetzungen wissenschaftlicher und literarischer Werke Ribeiros bei Suhrkamp.

 

 

Clara Ruvituso, Ibero-Amerikanisches Institut (Preußischer Kulturbesitz, Berlin), Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America (Mecila)