Etwa zu Beginn des Jahres 1969 schlug der Schriftsteller Franz Fühmann dem SED-eigenen Kinderbuchverlag, mit dem er seit 1958 als Autor verbunden war, ein neues Projekt vor: eine Nachdichtung der alttestamentarischen Geschichte von David und Goliath. Der 1922 geborene Fühmann, der heute oft im Schatten von Freund*innen und Kolleg*innen wie Christa Wolf oder Günter Kunert steht, hatte zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Nacherzählungen von Märchen und Mythen für Kinder vorgelegt, zuletzt unter dem Titel Das hölzerne Pferd eine viel beachtete Nachdichtung der Ilias und der Odyssee. Im undatierten Typoskript des Exposés, das Fühmann zum Projekt ›David und Goliath‹ verfasste und das sich in verschiedenen Fassungen im Fühmann-Archiv im Archiv der Akademie der Künste Berlin befindet, schildert er sein Vorhaben. Es verdeutlicht, dass Fühmanns Anspruch keineswegs darin bestand, die weithin bekannte Geschichte in zeitgemäß-kindgerechte Sprache zu übertragen, Komplexität zu reduzieren und Erwähnungen von Sexualität und Gewalt aus ihr zu tilgen. Vielmehr folgte er auch hier der in einem Werkstattgespräch von 1966 geäußerten Devise, »[j]ede Zeit« entdecke in den Mythen, Sagen und Geschichten der Weltliteratur »das neu, was sie für besonders wichtig hält, also auch die unsrige«. Und so erklärt er im Exposé zu ›David und Goliath‹, nicht nur die bekannte Episode mit der Steinschleuder erzählen zu wollen, sondern »eine zusammenhängende spannende Geschichte von Davids Taten, die insgesamt ein Kampf gegen einen größeren und gefährlicheren Riesen denn Goliath gewesen sind, ein Kampf nämlich gegen die angesichts feindlicher Bedrohung tödlich gewordene Uneinigkeit der israelischen Clans und für ihre Zusammenführung unter das Zepter des Volkskönigstums«.
Fühmanns Exposé ist am Historischen Materialismus realsozialistischer Prägung orientiert. Er beschreibt die Geschichte des Königs David als Geschichte eines zivilisatorischen Fortschritts, dessen Ursprünge in der Entwicklung der materiellen Produktion liegen: Die zwölf Stämme Israels seien von den Philistern bedroht gewesen, die »das Monopol der Eisenverhüttung besaßen«. Dank dieser technischen Überlegenheit hätten diese die untereinander zerstrittenen Israeliten militärisch schlagen, ihre Bundeslade rauben und sich »zum Unterdrücker auf[schwingen]« können. David habe daher nicht nur »den eisenstrotzenden riesigen Goliath« besiegen müssen, sondern vor allem die »Zwietracht« unter den israelischen Stämmen, das »Clan-Denken« und den »Stammesegoismus«, da nur die Vereinigung des israelischen Volks angesichts des technisch überlegenen Feindes eine zuverlässige Selbstverteidigung habe gewährleisten können. Davids Kampf gegen die »partikularistischen Kräfte« unter den Stammesfürsten und seine Aufhebung der Clanstrukturen in ein israelisches Großreich deutet Fühmann somit als Fortschritt im Sinne einer Rationalisierung und Universalisierung von Herrschaft und gesellschaftlicher Ordnung. Er lässt seine Erzählung im Exposé damit enden, dass David, nach einem langen und schweren, letztlich aber erfolgreichen Kampf für ein vereinigtes Volk Israel, »für seinen Sohn Salomon eine glückhaftere und friedvollere Zeit zum Wohl des Volkes« erhofft, »das Goliath nun endgültig besiegt hat«.
Wann das Exposé den Kinderbuchverlag erreicht hat, lässt sich aus den im Fühmann-Archiv befindlichen Dokumenten nicht rekonstruieren. Der Zeitpunkt, an dem Fühmann eine Reaktion erhalten hat, lässt sich hingegen bestimmen: Einem Brief des Kinderbuchverlags vom 28. Februar 1969 liegt ein anonymisiertes Gutachten bei, das Fühmanns Vorhaben in toto zurückweist. Das in dogmatischem Ton verfasste Dokument begründet diese kategorische Ablehnung weder mit der Wahl des biblischen Stoffs noch mit Fühmanns Interpretation, sondern mit der Gefahr, »daß der kindliche Leser das Volk Israel des Altertums mit dem heutigen Staat Israel identifiziert« und »de[n] kleinen, aber mutigen und klugen David mit dem israelischen Aggressor und de[n] großen, aber dummen Goliath mit den Arabern« gleichsetze.
Etwa anderthalb Jahre zuvor, im Sechstagekrieg vom Juni 1967, hatte Israel innerhalb kürzester Zeit die von der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt unterstützten, zahlenmäßig und militärisch überlegenen arabischen Staaten geschlagen und mehrere Gebiete erobert, unter anderem das bis dahin von Jordanien besetzte Ostjerusalem. Die seit den stalinistischen Säuberungen der frühen fünfziger Jahre zur Staatsraison geronnene Feindseligkeit der DDR gegenüber Israel verschärfte sich dadurch noch: Wie alle anderen osteuropäischen Staaten (außer Rumänien) brach auch die DDR ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel, das zum ›Brückenkopf des US-Imperialismus‹ erklärt wurde, ab. In den Öffentlichkeiten der westlichen Staaten hingegen wurde der triumphale Sieg des kleinen Landes zunächst überwiegend gefeiert – und nicht selten wurde dabei das Bild von David und Goliath aufgerufen. So endete etwa Rudolf Augsteins Leitartikel im SPIEGEL vom 12. Juni 1967 mit dem Ausruf: »Israel, der David unter den Völkern, soll leben!« Obwohl nur wenige Kinder und Jugendliche in der DDR Zugang zu derartiger »imperialistische[r] Propaganda« gehabt haben werden, scheint der Gutachter befürchtet zu haben, dass die Analogie leicht verfangen könne.
Als »[g]anz indiskutabel« bewertet der Gutachter schließlich Fühmanns Vorhaben, »den Kampf Davids um die Einigung der israelischen Stämme darzustellen und zu verherrlichen« – und liest die Geschichte Davids auch in dieser Hinsicht so, als handele es sich um eine chiffrierte (proto-)zionistische Erzählung: Davids Einigung des Volkes Israel wird von ihm mit der zionistischen Idee eines Nationalstaats für alle Jüdinnen und Juden parallelisiert. Und aus der Perspektive des Realsozialismus stellte diese Idee und der ihr inhärente an die jüdische Diaspora gerichtete Aufruf zur Alija eine Bedrohung dar. Die in den sozialistischen Ländern lebenden Jüdinnen und Juden sollten ihre Zukunft nicht in Israel, sondern in der Assimilation suchen – und auf keinen Fall durfte es angehen, dass Israel sich für sie womöglich als lebenswertere Alternative zum Realsozialismus erweisen könnte.
Fühmann war in seinem Exposé erkennbar bemüht, diesen Einwänden zu begegnen, indem er seiner inhaltlichen Skizze einen programmatischen Absatz zu den Quellen der Nacherzählung voranstellte. Er wolle, so Fühmann, nicht nur das Alte Testament, sondern auch den Koran als Vorlage nutzen: »Es scheint mir an der Zeit, mit der Tradition zu brechen, die weltliterarische Gestaltung von Adam bis Christus ausschließlich als der israelischen Volkspoesie zugehörig zu sehen und nicht zu berücksichtigen, daß Abraham wie Salomo, Josef wie David, Hiob wie Jesus gleichermaßen der arabischen wie der israelischen Überlieferung angehören.«
Doch auch dieser fragwürdige Versuch, den jüdisch-alttestamentarischen Charakter der Geschichte von David und Goliath zu relativieren, verhinderte nicht das abschlägige Urteil des Gutachters: Die Gefahr einer Identifikation des Volks Israel mit dem heutigen Staat Israel könne durch die »Einbeziehung der islamischen Tradition in die Darstellung« schwerlich gebannt werden, denn: »Die Geschichte von David und Goliath wird ja im Koran nicht erzählt, sondern diese aus dem Alten Testament bekannten Gestalten werden nur symbolisch verwendet.« Die Verlagslektorin Regina Hänsel bekundete im beigefügten Brief ihre Zustimmung zum Urteil des Gutachters und verlieh ihrer Überzeugung Ausdruck, »daß es das Beste ist, dieses Projekt jetzt zurückzustellen«. Fühmanns Plan einer Nachdichtung von ›David und Goliath‹ wurde nie realisiert.
Das Verlagsgutachten lässt nicht zuletzt einen wesentlichen Unterschied zwischen der damaligen Situation in der DDR und jener in der BRD sichtbar werden: In der DDR gab es kein »1968«. Statt mit emanzipatorischen Protesten und Liberalisierungstendenzen ist diese Jahreszahl in der DDR mit der Verstärkung staatlicher Repression verbunden, insbesondere mit der Niederschlagung des Prager Frühlings. So wurde 1968 zu einem »Schicksalsjahr«, das »zu einer tiefen Zäsur im Denken der DDR-Intelligenz« führte, wie Werner Mittenzwei in seiner politischen Literaturgeschichte der DDR Die Intellektuellen schreibt. Auch Fühmann, der bis dahin als kritischer, aber doch der DDR gegenüber stets loyaler Intellektueller galt, wurde von diesen Ereignissen in eine schwere Krise gestürzt. In seinem Essay zu Georg Trakl, Vor Feuerschlünden, schreibt Fühmann fast 15 Jahre später, dass die »Ereignisse des Sommers 1968 […] in meiner Entwicklung einen jener Sprünge bedeuten, in denen die personale Einheit sich als Diskontinuität durchsetzt […]«, und fügt die dunkle Andeutung hinzu, »daß sich in jenen Tagen jählings vor mir auch ein schwarzer Weg auftat«. Fühmann war in die Diskussion um die Niederschlagung des Prager Frühlings auch ganz persönlich verwickelt. Als seine damals sechzehnjährige Tochter Barbara in der Schule gegen den Einmarsch in Prag Stellung bezog, stärkte er ihr den Rücken. In einer vertraulichen Aktennotiz der NDPD, für die Fühmann lange Jahre als Funktionär tätig war, wurde daraufhin geurteilt, er habe »den politischen Boden verloren oder bewußt aufgegeben«. Tatsächlich hat Fühmann im Jahr 1968 ›den politischen Boden verloren‹ – wenn auch auf ganz andere Weise, als in diesem Spitzelbericht gemeint.
Auch kulturpolitisch war die zweite Hälfte der 1960er Jahre in der DDR keine Zeit der Liberalisierung; Fühmann bezeichnete sie in Gesprächen rückblickend als eine »Restriktionsphase« und »eine Zeit unerträglicher Verengung«. Vor allem das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 markierte einen entscheidenden Bruch in der DDR-Kulturpolitik, indem es massive Eingriffe in die Freiheit von Kunst und Kultur beschloss und die Schriftsteller*innen und Künstler*innen zur Ordnung rief. Ihnen wurde die Verrohung der Jugend, Destruktivität und Nihilismus vorgeworfen, von ihrer Kunst wurde fortan Nützlichkeit gefordert; avancierte künstlerische Verfahren wurden geächtet, mehrere Bücher und Filme wurden verboten, Wolf Biermann und andere kritische Künstler*innen erhielten ein vollständiges Auftrittsverbot.
Diese verschärfte kulturpolitische Linie der DDR spiegelte sich auch in der Verlagslandschaft wider. Kinder- und Jugendbüchern kam in der DDR eine prominente Stellung zu, da sie zur Erziehung zuverlässiger sozialistischer Mitbürger*innen beitragen sollten, und so unterlagen sie in der Regel einer ebenso strengen Kontrolle wie Literatur für Erwachsene. Weit häufiger als die Zensur griff jedoch die Selbstzensur ein: Von den Verlagen wurde Siegfried Lokatis zufolge »erwartet, dass [sie] […] bereits im Vorfeld die nötigen Gutachten eingeholt hatten, um ›ideologische Fehler‹ zu vermeiden«. Während das Jahr 1968 in der BRD zum Ausgangspunkt zahlreicher (linker) Verlagsneugründungen wurde, gab es in der DDR keine unabhängigen Verlage und damit kaum Möglichkeiten, den engen Schranken der ideologischen Zensur zu entgehen. Franz Fühmann scheiterte an diesen Schranken mehr als nur dieses eine Mal.
Lukas Betzeler, Leuphana Universität Lüneburg
Alle Zitate aus Franz Fühmanns unveröffentlichtem Exposé »David und Goliath« (Franz-Fühmann-Archiv, Signatur Fühmann 418) erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Hinstorff Verlags (©Hinstorff Verlag GmbH, Rostock)