»Contra todos los imperialismos«: Solidarität mit der Tschechoslowakei 1968

 

 

»Contra todos los imperialismos«: Solidarität mit der Tschechoslowakei 1968

Am 24. August 1968 beschließt Siegfried Unseld, der Leiter des Suhrkamp Verlags, einen Solidaritätsaufruf an zahlreiche Intellektuelle des deutschsprachigen Raums zu schicken. Unseld schreibt: »guenter grass, max frisch und peter bichsel haben (inanwesenheit [sic] von pavel kohout) den anliegenden aufruf geschrieben. sie bitten um ihre unterschrift. wir wollen mit diesem aufruf einen grossen kreis erreichen.« Doch wie sammelte man Unterschriften in einer Zeit, als es noch keine E-Mails oder Websites wie Change.org gab? Dieses Dokument ist kein Brief und auch kein Fax, sondern ein Fernschreiben, auch Telex genannt. Ein Telex wurde mit einem gleichnamigen Gerät verschickt, das Texte über ein Netz übermitteln konnte, das so ähnlich funktionierte wie ein Telefonnetz und von Unternehmen und Regierungen benutzt wurde, um Eilmitteilungen an bestimmte Adressen direkt oder als Rundschreiben zu verschicken. Unseld war in Eile und wählte daher dieses Medium.

Er hatte dringende Gründe: In der Nacht zum 21. August 1968 waren Truppen der Warschauer Pakt-Länder in die damalige Tschechoslowakei (ČSSR) einmarschiert, um der sozialistischen Reformbewegung des Prager Frühlings ein Ende zu setzen. Diese Gewalttat wurde im Solidaritätsaufruf als »imperialistisch« bezeichnet, da sie Freiheit und Demokratie unterdrückte. Der Einmarsch wurde mit anderen Konflikten verglichen, beispielsweise mit dem Vietnamkrieg, aber auch mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei dreißig Jahre zuvor.

Nicht nur die genannten deutschsprachigen Autoren sahen Parallelen zu diesen anderen Vorfällen. Im gleichen Konvolut im Siegfried Unseld Archiv (SUA) am DLA Marbach befinden sich Flugblätter aus Mexiko, in denen Intellektuelle vehement gegen alle Imperialismen –»Contra todos los imperialismos« – protestierten. Auch hier ist der Einmarsch in die ČSSR der Anlass zum Protest. Die Autoren sind in Mexiko eingebürgerte spanische Flüchtlinge, die nach dem spanischen Bürgerkrieg nach Lateinamerika geflohen waren. Beide Texte – das Telex und der Text dieser Flugblätter –  haben viele Gemeinsamkeiten: die Solidarität mit der Tschechoslowakei und die Einbettung dieses Angriffes in einen größeren Kontext der Unterdrückung von kleinen Ländern durch stärkere Mächte. Beide Texte heben auch die berüchtigte Beteiligung der DDR in dieser Invasion hervor und vergleichen sie mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Welche Rolle spielte die DDR bei diesem Konflikt?

1968 sprach sich die DDR-Führung entschlossen gegen die Reformen des Prager Frühlings aus. In der Nacht der Invasion waren zwei Divisionen der DDR-Volksarmee bereits unterwegs nach Prag, als der Kreml Walter Ulbricht überreden konnte, sie zu stoppen: Man wolle historische Parallelen zum nationalsozialistischen Einmarsch vermeiden, daher sollten keine deutschen Panzer die Grenze überqueren. Nur kleine Stabsoffizierstrupps der DDR überschritten die Grenze. Dafür war die Beteiligung der Staatsicherheit an der Unterdrückung der Prager Reformbewegung umso intensiver. Es wirkt fast ironisch, dass Ulbricht, der als der entschiedenste Befürworter der Unterdrückung des Prager Frühlings galt, vom Kreml daran gehindert wurde, mit seinen Truppen einzumarschieren. Wie die genannten Dokumente zeigen, änderte diese spontane Entscheidung des Kremls nichts daran, dass man in der BRD und in Mexiko die Besatzung der ČSSR zugespitzt mit dem Einmarsch Hitlers verglich – genau das, was eigentlich vermieden werden sollte. Der Vergleich war hyperbolisch – beim Angriff im Spätsommer 1968 starben 140 Menschen –, aber er sollte die Schärfe der Kritik unterstreichen. Diese Archivfunde sind auch deshalb interessant, weil sie uns an eine Zeit erinnern, in der, trotz dürftiger technischer Mittel, Intellektuelle mit ihren Solidaritätsbekundungen Grenzen überschritten und starke und entschiedene politische Positionen in der Öffentlichkeit vertraten. Bis zum 11. September 1968 hatten 1.200 Autorinnen und Autoren den von Unseld verschickten Aufruf unterschrieben.

 

Elisa Kriza, Otto-Friedrich Universität Bamberg