Theodor W. Adorno »Marginalien zu Theorie und Praxis«, ZEIT vom 15. August 1969, mit Anstreichungen von Hans Blumenberg, DLA Marbach, Foto: Chris Korner

Blumenberg liest Adornos »Marginalien zu Theorie und Praxis«

Hans Blumenbergs Lektüre von Theodor W. Adornos »Marginalien zu Theorie und Praxis« ist in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Der Text erschien in der ZEIT vom 15. August 1969, in derselben Ausgabe, die mit einem Nachruf Iring Fetschers auf den Tod Adornos reagierte. Dessen Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis mussten für Blumenberg allein deshalb von Interesse sein, weil er selbst, meist unter dem Titel »Theorie und Lebenswelt«, immer wieder auf das Problem zurückgekommen ist. Liest man die »Marginalien« im Lichte von Blumenbergs Einlassungen zu Adorno, so erscheinen sie allerdings als Abstoßungspunkt. In einem aus dem Nachlass veröffentlichten Text mit dem Titel »Dogmatische und rationale Analyse von Motivationen des technischen Fortschritts« (1970) findet sich eine Passage, die sich als polemischer Kommentar dazu deuten lässt. Blumenberg diskutiert darin Annahmen »radikaler Formen der Zivilisationskritik«, die sich mit wiederkehrenden Motiven seiner Kritik an Adorno decken. Indem er die These einer »totalen Selbstverblendung des einzelnen«, die noch jede utopische Phantasie blockiere, zum Herzstück solchen Denkens erklärt, spießt er die in »Marginalien« erwähnten Theoreme des Verblendungszusammenhangs und des Bilderverbots auf. Blumenberg, der in ähnlicher Weise in Die Legitimität der Neuzeit oder Arbeit am Mythos auf diese Theoreme zu sprechen kommen wird, resümiert: »Das kulturkritische Lamento muß die Undurchdringlichkeit der Verfinsterung des immanenten Prozesses behaupten, weil sie nur so die Gewähr bietet für das Erreichen des Punktes, an dem die Negativität durch Negation qualitativ und endgültig überwunden wird. Diese Art von Kulturkritik verbietet immanent, Folgerungen aus ihr zu ziehen; sie ist im Grunde die Empfehlung des reinen Quietismus und Attentismus«. Blumenberg reproduziert damit den Vorwurf der Praxisferne, den die revoltierenden Studenten an Adorno adressiert hatten und auf den die »Marginalien« antworten. Schwerlich dürfte es seine Absicht gewesen sein, die Partei jener zu ergreifen. Doch sieht Blumenberg die Gefährlichkeit geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenkens nicht allein durch die Revolutionsallüren der Studenten bestätigt, sondern auch durch Adornos Absage an den pragmatischen »nächsten Schritt«. Darüber hat der Verteidiger der kleinen Fortschritte das mit Adorno geteilte Interesse am Problem von Theorie und Praxis ebenso aus den Augen verloren, wie das letztlich Gemeinsame am Projekt einer Kritik der Kultur- und Fortschrittskritik.

 

Sebastian Tränkle, Forschungsinstitut für Philosophie Hannover / Freie Universität Berlin