»Das Abseits, in dem wir uns aufhielten, ist kein sicherer Ort – aber es ist ein Ort der Freiheit.« Ein Gespräch mit Christa und Peter Bürger

Zwei Begriffe, die man mit 1968 verbindet, sind Theorie und Praxis. Sie haben sich in den Sechzigerjahren kennengelernt, Ihre akademische Laufbahn in Bonn begann gewissermaßen zeitgleich mit der Studentenbewegung. Wie würden Sie ihr Verständnis von bzw. ihr Verhältnis zu Theorie und Praxis in jener Zeit beschreiben? Was war denn ihre Praxis, was war ihre Theorie?

 

CB: Dass Theorie kein leerer Begriff, sondern »praktisch folgenreich« ist, das war für uns von Anfang an klar. Und es galt natürlich auch für unsere Lebensform. Wir gehörten zu einer Generation von jungen Akademikern, die sich am Leitbild von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre ausrichtete, aber in dem neuen Beziehungsmodell einer »intellektuellen Ehe«. Wir haben, gemäß unserer Maxime, dass wir kleine Kompromisse eingehen wollten, um bei den großen an unserer eigenen Position festhalten zu können, den Gang zum Standesamt gemacht.

 

PB: Wir wollten nicht an dieser Front auch noch Schwierigkeiten haben. Es gab genügend Reibungsflächen, sowohl am Romanischen Seminar der Universität Bonn wie an Christas Mädchengymnasium, der Clara-Schumann-Schule.

 

CB: In unserm Zusammenleben ging es darum, dass beide die gleichen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung hatten.

 

PB: Christa Bürger hatte in der Schule das übliche Wochendeputat von 24 Stunden, das ist viel für einen Einstieg. Und meine konkreten Arbeitsbedingungen als geschäftsführender Assistent habe ich in einem Brief an Thomas Hettche, den ich als Nachwort für die Neuausgabe der Theorie der Avantgarde geschrieben habe, dargestellt.

 

CB: Eine solche Selbstbehauptung, wie Peter Bürger sie praktizierte, war an der Ordinarienuniversität der Sechzigerjahre nicht vorgesehen, und sie barg, wie sich zeigen sollte, Risiken. Die Reaktion der Professoren können sie in dem zitierten Brief nachlesen.

 

Aber haben Sie denn an dem teilgenommen, was man gemeinhin unter der Praxis der Studentenbewegung versteht, Demonstrationen, Proteste etc.?

 

CB: Sie müssen nicht vergessen, dass wir 1968 bereits Anfang dreißig waren und als Studienrätin und Hochschulassistent für die Studenten bereits zum Establishment gehörten. Unser Misstrauen gegenüber institutionalisiertem Wissen, unsere Widersetzlichkeit gegenüber Institutionen überhaupt, aber auch wohl eine durch Kindheitserfahrungen erworbene Idiosynkrasie gegenüber Massenveranstaltungen fügte sich den Protestformen der Außerparlamentarischen Opposition nicht.

 

PB: Die Studentenbewegung war für uns mehr als eine politische Revolte. Wir haben sie erlebt als Aufbruch, als Initiation zu einer umgreifenden Umgestaltung der Gesellschaft. Fantasie, Imagination, Begehren – das waren auf einmal politische Begriffe. Durch unsere Frankreichaufenthalte als Lektoren in Lyon und die Freundschaft mit Joël Lefebvre, dem Sohn des Philosophen Henri Lefebvre, dessen Buch über Das Alltagsleben in der modernen Welt mit dem Gedanken der Revolution als Fest von den Studenten begeistert aufgenommen worden ist, waren wir darauf vorbereitet.

Unser gesellschaftliches Engagement haben wir nicht in der Aktion zu verwirklichen gesucht. Wir waren die erste unbelastete Generation von Lehrern und Professoren nach Kriegsende. Wir hatten so gut wie keine Vorbilder, außer vielleicht Erich Auerbach, Werner Krauss, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer natürlich. Wir wollten die Vergangenheit nicht vergessen, aber es ging uns nicht um die Verurteilung von Personen – entlarven, enthüllen, hießen die Leitbegriffe der Studenten von 1968 – ,wir wollten uns beteiligen an der Entwicklung eines kritischen Verständnisses von Wissenschaft und Gesellschaft, das heißt an einer kritischen Gesellschaftstheorie und einer methodologisch fundierten Literaturwissenschaft. »Politisierung der Wissenschaft« bedeutete für uns nicht die Verfolgung von politischen Tagesinteressen, sondern die Reflektion von Wissenschaft und Gesellschaft. Das Prinzip unserer Unterrichtsgestaltung, die Wahl der Gegenstände und Methoden, darin lag die »gesellschaftliche Relevanz«, wie wir das damals nannten.

Das war aber eine offenbar provozierende Praxis. Als ich, es muss 1967 oder 68 gewesen sein, während eines Streiksemesters ein, wie sich sofort erwies, sehr besuchtes Methodenseminar anbot, sprachen die Ordinarien von »linker Machtergreifung« am Seminar. Aber wenige Jahre später hat eine Kollegin, Deutschdidaktikerin an der neugegründeten Bremer Universität, gefunden, dass an Christas 1970 veröffentlichtem kleinen Buch Deutschunterricht – Ideologie oder Aufklärung, das eine Reihe von ideologiekritischen Unterrichtsmodellen enthielt, nur der Einband rot sei.

 

CB: Ich habe Deutsch und Philosophie in der Oberstufe unterrichtet und mit meinen klugen Schülerinnen, für die die Studentenbewegung eine spannende Phase in ihrer intellektuellen Entwicklung war, Nietzsche, Freud, Bloch, Marx und Lévi-Strauss gelesen. Die kritischen Fragen, die sie in meinem Unterricht zu stellen gelernt hatten, empfanden nicht wenige meiner Kolleginnen als aufsässig und reagierten feindselig. Die Isolation, in die ich auf der Clara-Schumann-Schule geriet, fand ihren Ausdruck in der gelegentlich halblaut geäußerten Frage, warum ich denn nicht »in die Zone« ginge.

Wir sind leidenschaftliche Lehrer gewesen, und offenbar wurden wir gerade deshalb als störend, zunehmend als gefährlich wahrgenommen und eingestuft. Das ist eine Situation, wo man leicht in Gefahr geraten kann, die pädagogischen Erfolge, die man hat, in ihrer gesellschaftlichen Wirkung zu überschätzen. Es ist eine Art Euphorie der Theorie, die sich da einstellen kann. Diese Versuchung war uns sehr bewusst, wir haben sie bearbeitet mit Selbstironie, die den anderen mahnte, »sich nicht für Peter Bürger bzw. Christa Bürger zu halten« – in Anlehnung an ein Diktum von Jacques Lacan.

 

Der wesentliche Bereich, wo sich die politische Überzeugung und Sozialisation niedergeschlagen hat, war also die Theoriearbeit und die Lehre. Könnte man sagen, dass Theoriearbeit so etwas wie ein Ersatz für eine verstellte Praxis war? Denn es gab ja noch eine andere Seite – und das greift etwas auf, das Sie, Herr Bürger, in der Theorie der Avantgarde geschrieben haben –, nämlich die Tendenz, vor allem die Alltagsbeziehungen zu politisieren. In diesem Verständnis äußert sich das Politische nicht nur in dem, was man liest, sondern in allen Bereichen des Lebens: Wie man wohnt, wie man Kunst praktiziert, wie man Partnerschaften konzipiert. Vor dem Hintergrund Ihres eigenen Lebensmodells würde uns interessieren, ob und wie Sie das gesehen haben, diese Übertragungen des Politischen auf wirklich alle Lebensbereiche, die dann dazu geführt hat, dass man sich fast schon dafür rechtfertigen musste, wenn man nicht in eine WG gezogen ist, sondern sozusagen klassisch bürgerlich zu zweit in eine Wohnung.

 

PB: Dass, von außen betrachtet, in der Art und Weise, wie wir lebten, unsere gesellschaftspolitischen Anschauungen zum Ausdruck kamen und d.h. sichtbar wurden, versteht sich von selbst. Unsere Bonner Wohnung war alles andere als bürgerlich; sie war eigentlich unmöglich, eine ausgebaute Garage. Und auch unser Lebensstil mag auf Freunde und Bekannte einen geradezu asketischen Eindruck gemacht haben. Wir hatten aber halt wenig Ansprüche und beschränkten uns auf das, was wir wirklich brauchten an Hausrat und Möbeln; ein Auto z.B. brauchten wir nicht, aber Bücherregale und Schreibtische natürlich. Sie können das hier ja alles noch sehen; wir haben es kaum ergänzt – außer um Bücherregale. Was wir uns leisteten, das war Kunst, Radierungen, Zeichnungen, ein paar Gemälde, die wir bei den Künstlern im Atelier kauften. Wir sind auf dem Fahrrad auf Entdeckungen gegangen in Bremen und Umgebung und haben uns angeschaut, was es da gab. Bei Norbert Schwontkowski, bei Renate Paulsen oder Angela Kolter oder in Worpswede bei Pit Morell. Später kamen vor allem noch Jürgen Brodwolf und Johannes Beyerle dazu. Für einige der Künstler haben wir auch Katalogbeiträge geschrieben, eine schöne Erweiterung der Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen.

 

CB: Ich kann mich übrigens nicht erinnern, dass wir unsere Alltagspraxis oder das Lebensmodell einer »intellektuellen Ehe« anderen gegenüber hätten rechtfertigen müssen. Diesbezüglich waren die Achtundsechziger sehr tolerant.

 

PB: Aber Sie fragen ja auch nach »unserer« Theorie. Darauf eine bündige Antwort zu geben, ist natürlich nicht einfach. Mit »Vorübungen zu einer kritischen Literaturwissenschaft« beginnt meine Theorie der Avantgarde; sie enthält damit in nuce einen Theorieentwurf, der zugleich ein politisches Programm ist. Gleich eingangs beziehe ich mich auf Horkheimers Aufsatz von 1937: Traditionelle und kritische Theorie. Kritische Wissenschaft, lasen wir dort, unterscheidet sich von traditioneller dadurch, dass sie ihr eigenes Tun reflektiert. Wir haben, schon bevor wir uns kannten, den Blick nach Frankreich gerichtet, um uns aus der »bleiernen Zeit« der 50er Jahre und einer theorie- und methodenlosen oder den »Jargon der Eigentlichkeit« nachsprechenden akademischen Lehre neu zu orientieren. Namen wie Horkheimer und Adorno oder Lukács, aber auch wie Auerbach und Krauss waren in den Vorlesungen und Seminaren nicht vorgekommen. Dass Wissenschaft, wie immer vermittelt, immer schon Teil gesellschaftlicher Praxis ist, dass sie nicht, wie es uns beigebracht worden war, interesselos ist, mussten wir erst lernen, bei Brecht zum Beispiel, dessen einfache Frage nach dem cui bono sich nicht nur auf literarische Texte anwenden ließ. Wir gehörten zu jener »nachdenklichen Linken«, die Habermas nach ihren Stichworten zur »geistigen Situation der Zeit« befragt hat. Es war ein aufwendiger, aber inspirierender Denk- und Arbeitsprozess, auf den wir uns eingelassen hatten.

 

CB: Es ging uns darum, so wie wir es uns für unser eigenes Leben vorgenommen hatten, unseren Schülern und Studenten den Zugang zur kulturellen Überlieferung zu eröffnen, die Möglichkeit – in der Terminologie von Pierre Bourdieu – »kulturelles Kapital« zu erwerben und darüber verfügen zu können. Und mit Habermas waren wir davon überzeugt, dass »komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können« in kritischer Erinnerung an die Tradition. Das war die Aufgabe für den Deutschunterricht, den ich im Klassenzimmer und in didaktischen Veröffentlichungen zu verwirklichen versuchte. Solche Bildungsprozesse bedürfen eines Widerstands, in unserem Fall...

 

PB: ...denn das gilt ja gleichermaßen für die Universitätslehre

 

CB: ...bestimmter Aneignungsmodelle, Methoden und Traditionen. Immer bedarf es eines Bestands von bestimmten Deutungsmustern, in denen die Schüler oder Studenten sich erkennen können oder die sie – wie es damals hieß – hinterfragen wollen.

 

Vielleicht führen wir Ihr sozusagen privates Verhältnis zu 1968 einmal auf die Ebene der Theorie und Ihrer Schriften zurück. In »Mein Weg durch die Literaturwissenschaft« sprechen Sie, Frau Bürger, von einem »ganz anderen, unmittelbaren Zugang« zur Studentenbewegung und beschreiben die Rebellion als »nachträgliche Verwirklichung des surrealistischen Projekts«. Sie, Herr Bürger, nennen es dann eine »gegenseitige Erhellung«. Worin besteht denn genau diese gegenseitige Erhellung, also des surrealistischen Projekts und tatsächlicher Rebellion?

 

PB: Was in Paris die Studenten auf die Mauern der Sorbonne gesprüht haben, ist in einem kleinen, weit verbreiteten Buch festgehalten: Les Murs ont la parole. Die Sprache der Mauern war die des Surrealismus, es waren utopische Sätze. Die waren, wie soll man sagen…

 

CB: Überschwänglich!

 

PB: Richtig. Mes désirs sont la réalité, »die Einbildungskraft erobert die Macht« – das waren Begriffe, die aus dem Reich der Kunst kamen und politisch aufgeladen wurden.

 

CB: Eigentlich waren wir gut darauf vorbereitet durch Ernst Blochs Rehabilitierung des Irrationalen in Erbschaft dieser Zeit. Wir haben wohl das vollkommen Irreale dieser Bewegung erkannt; es war aber darin ein Impuls, der uns entgegen kam.

 

Warum gab es, vor dem Hintergrund dieser intensiven Erfahrung mit Frankreich und im Vergleich mit der Faszination für den Surrealismus bei Ihnen zunächst keine vergleichbare Begeisterung für den Existenzialismus, für Sartre und Camus?

 

CB: Als wir, ziemlich spät, den Schriftsteller Pierre Michon entdeckt und seinen sehr poetischen Text Rimbaud le fils gelesen haben, wussten wir wieder, warum uns diese in Rimbaud verkörperte Revolution mehr interessiert hat als damals Sartre oder Camus.

 

PB: Camus vor allem war einem auch dadurch verleidet, dass er extensiv im Französischunterricht der Oberstufe gelesen wurde und dass den Studenten nichts einfiel als ein Referat über Camus oder, noch schlimmer, Le Petit Prince.

Sartre hat großartige Essays über Literatur geschrieben, über Bataille oder, ja, über Camus’ L’Étranger. Wie wichtig mir diese »Explikationen« waren, können Sie an der Abgegriffenheit meines Exemplars von Situation I sehen.

Aber vom Surrealismus ging eine ganz andere neue Faszination aus. Es ging um die Veränderung des Lebens durch Kunst, das war etwas ganz anderes als Sartres Engagement. Von der Kunst, von der künstlerischen Arbeit sollte der Impuls zur Umgestaltung der Lebenswelt, der zwischenmenschlichen Beziehungen ausgehen. Wir haben damals, um den Surrealismus wirklich zu begreifen, uns mimetisch verhalten, wir haben Textmontagen und Bildcollagen gemacht, automatische Texte und Cadavres exquis.

 

CB: Nach einigen gescheiterten Versuchen, eine Gruppe zu bilden, haben wir verstanden, dass wir allein waren, aber als Paar. Wir hatten allerlei Feindseligkeiten zu bestehen, und die surrealistische Praxis war da ein gutes Gegengewicht. Dass wir mit der Gruppenbildung gescheitert sind, hatte auch damit zu tun, dass Peter Bürger kein Interesse daran hatte, eine Führungsrolle zu übernehmen, es gab da geradezu eine Idiosynkrasie, die sich immer wieder zeigte. Das Abseits, in dem wir uns aufhielten, ist kein sicherer Ort – aber es ist ein Ort der Freiheit.

Wir haben nicht mehr das Siebengebirge durchwandert, sondern sind mit unseren Fahrrädern, die natürlich nicht auf dem neusten Stand der Technik waren, nach Worpswede gefahren zu Rosi und Pit Morell, bei dem Peter das Radieren gelernt hat. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man anders vor Kunstwerken im Museum steht, wenn man weiß, wie sie »gemacht« sind. Und man liest mit anderen Augen.

 

PB: Meine Faszination durch den Surrealismus hatte auch zu tun mit einer festgefahrenen Gegenwartsästhetik, der Tabuisierung des Gegenstands. Die dominierende abstrakte Kunst konnte auch erscheinen als Verlust der menschlichen Gestalt, erklärbar als Reaktion auf die Barbarei zweier Weltkriege.

Aber plötzlich gab es eine andere Moderne, die Kunst als befreiende Praxis begriff, als Teil der Lebenspraxis. Das war eine Kunst, die zugleich eine Theorie der Bewegung sein wollte. Das Manifest ist eine avantgardistische Gattung.

 

Ich würde gern versuchen, eine Differenz herauszuarbeiten. Der Surrealismus war ja Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre äußerst populär und es sind ja mehrere Bücher zum Surrealismus erschienen: beispielsweise von Elisabeth Lenk und Karl Heinz Bohrer. Mir scheint, dass der Surrealismus, so wie Sie ihn verstehen, immer noch im Dienst eines guten, vernünftigen Lebens steht. Bohrer hingegen macht die Unmittelbarkeit der ästhetischen Erfahrung ja in gewissem Sinne als Einspruch gegen ein Zuviel von Vernunft geltend. Habe ich das richtig verstanden, dass sich Ihr Begriff des Surrealismus und der ästhetischen Erfahrung davon unterscheidet?

 

PB: Ich hatte damals mit Bohrer eine ganz seltsame Beziehung, absolut surreal. Ich hatte den Eindruck, dass ich ihn und er mich schätzte, und wenn wir uns irgendwo getroffen haben, was tatsächlich nur zufällig passierte, dann hat es eigentlich immer sehr gute Gespräche gegeben. Aber meine Kritik an Bohrer war, dass er aus den Surrealisten wieder nur Künstler machte. Das Politische des Surrealismus, gerade in der historischen Phase der Zwanziger- und Dreißigerjahre, fällt bei ihm weg. Er warf mir vor, dass ich von Ästhetik nichts verstand, gab aber doch zu, dass die Formanalysen ich gemacht habe, und bescheinigte mir, unter den furchtbaren Ideologiekritikern die Ausnahme zu sein.

 

CB: Bohrer ist eine unserer versäumten Gelegenheiten.

 

Vieles von dem, worüber wir hier sprechen, fällt ja in die Zeit, die jetzt unter dem Stichwort der Theorie historisiert und gleichsam zu den Akten gelegt wird. Und tatsächlich hat sich das Verständnis von Theorie ja verändert. Wie haben Sie denn die Zeit der Achtzigerjahre wahrgenommen, als sich – etwas schematisch gesprochen – unter dem Einfluss von französischen, postmodernen, poststrukturalistischen Denkern ein Verständnis von Theorie durchgesetzt hat, das sehr auf Öffnung und Dezentrierung abzielte, weg von großen Erzählungen, hin zum Marginalisierten. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Anfänge in der Ideologiekritik, wie schätzen Sie diese Entwicklungen ein?

 

PB: Wir haben uns erneut und intensiv mit Adornos Ästhetischer Theorie auseinandergesetzt. Es war ja, als man, nach den USA, auch bei uns Foucault und Derrida, also die »französische Theorie« rezipierte, sofort sehr klar, dass dies ein Einschnitt war, der Bruch mit der Kritischen Theorie. Jürgen Habermas’ Abwehr des Irrationalismus der Poststrukturalisten hat uns nicht überzeugt. Man musste sich auf das andere Denken erst einmal wirklich einlassen, was ich mit meinem Ursprung des postmodernen Denkens versucht habe. Man musste sich der Tatsache stellen, dass der Poststrukturalismus eine bestimmte Weise war, mit der Krise der Moderne umzugehen. Das postmoderne Denken hielt eine epochale Erfahrung fest. Es wollte sich auf die Sicherungen der Dialektik nicht mehr verlassen, aber es musste doch wieder auf ein Ursprungsdenken zurückgreifen, das es gerade kritisierte. Das ist das, was Habermas so schön einen performativen Selbstwiderspruch nennt.

Indem ich mich auf die Vorgänger von Derrida und Foucault einließ, nämlich Hegels Todesphilosophie in der Rekonstruktion des für die Poststrukturalisten wichtigen russisch-französischen Denkers Alexandre Kojève, schien mir ein anderes, dunkleres Bild auf als das einer spielerischen Postmoderne, ein Bild vom modernen Ich und seiner Welt, das gerade in seiner Ausweglosigkeit auf das verweist, was uns bevorstehen könnte.

 

CB: Die postrukturalistischen Theoreme anything goes oder close that gap – sie waren für uns Wiederholungen avantgardistischer Positionen, aber ohne deren emanzipatorischen Impuls. Es ging um einen fröhlichen Abschied von Tradition und Geschichte zu Gunsten kleiner Erzählungen. Ernst genommen, war das eine einzige absolute Mega-Theorie-Erzählung. Aber was für uns aus der Beschäftigung mit dem Poststrukturalismus herauskam, war der Anstoß zu einem anderen, essayistischen Schreiben.

In meinem letzten Buch Exzess und Entsagung ist nach wie vor die ideologiekritische Textbefragung meine Methode, beruhend auf meinem in den Achtzigerjahren beginnenden Interesse, sie für eine feministische Literaturwissenschaft zu nutzen. Ich mache darin den Versuch, aus den Texten von Schriftstellerinnen von Caroline Schlegel-Schelling bis Simone de Beauvoir und ihren Lebensgeschichten, die ihnen jeweils eigene Lebensgebärde zu rekonstruieren. Das ist mit Benjamins Begriff der »rettenden Kritik« nicht zu fassen.

 

PB: Nein?

 

CB: Nein, denn meine »Rettung« geht nicht auf den Text der Frauen, ihr Schreiben, sondern auf die Institution Kunst/Literatur, in der die Ordnung der Geschlechter abgebildet ist. Die durch die Autonomieästhetik um 1800 hervorgerufene Dichotomisierung der Literatur hat es einfach gemacht, die literarischen Werke von Frauen in den Bereich der Trivialliteratur abzudrängen. Und ich habe versucht, sie herauszuholen.

 

PB: Ja, eben, das ist doch eine Form der Rettung.

 

CB: Eine Form der Rettung, die aber nur gelingt mittels des dialektischen Begriffs der mittleren Sphäre. Ein Roman von Johanna Schopenhauer ist nicht hohe Literatur und nicht Trivialliteratur, sondern ein Text eigener Ordnung. Die Methode, mit der ich an diese Texte herangegangen bin, beruhte auf einem Als ob: Ich habe sie gelesen, als ob sie Philosophie oder Literatur wären.

 

PB: Sie fragen, was aus der Ideologiekritik geworden ist, Sie wollen wissen, ob ich ihr treu geblieben bin. Lassen Sie uns einen Blick zurück tun zu Marx’ Religionskritik. Religion ist ihm zufolge Ausdruck des wirklichen Elends, nämlich der sozialen Realität, zugleich aber auch Protest dagegen. Sie bietet mit den Vertröstungen auf ein Jenseits die falsche Versöhnung mit einer schlechten Wirklichkeit.

Wenn Sie sich jetzt anschauen, was ich über Oswald Spengler oder Ludwig Klages, die wir früher links liegen gelassen haben, geschrieben habe, in meinem Essayband Nach vorwärts erinnern, da geht es nur um rettende Kritik an »versäumten Lektionen«. Ich habe da bisher verdeckte Spuren des Denkens von Walter Benjamin entdeckt, auch von Adorno, vor allem aber eine scharfsichtige Modernekritik, auch wenn die Zeitdiagnosen konservativ sind oder, meinetwegen, reaktionär.

 

Um das noch einmal auf die Postmoderne zu beziehen: Sie nehmen da also eine Art Zwischenposition ein, zwischen scharfer Ablehnung und völligem Überlaufen. Was halten Sie denn von der These, dass vor allem in Deutschland die Abwehr des poststrukturalistischen Denkens, bei Habermas beispielsweise, dass das eigentlich eine Abwehr des Irrationalismus als Voraussetzung des Nationalsozialismus war, wozu spiegelbildlich die enorme Popularität von deutsch-jüdischen Denkern um 1968 gehört. Ohne dass man es wirklich gemerkt hat, wurde eine Art Mimesis an etwas vollzogen, was ja vernichtet worden war, oder was zumindest versucht wurde zu vernichten. Beides gehört zusammen, die scharfe Ablehnung der Linie Nietzsche, Heidegger durch Jürgen Habermas, die ja für das französische Denken sehr wichtig ist, und andererseits diese zum Teil intensive Beschäftigung mit dem deutsch-jüdischen Erbe, also von Bloch oder Adorno bis hin zu Helmuth Plessner.

 

PB: Natürlich wusste ich, dass Adorno Jude war, aber das ist nicht für meinen Denkhorizont wichtig gewesen. Vielleicht dazu etwas Persönliches. Meine Eltern hatten in den zwanziger und dreißiger Jahren nur jüdische Freunde, und die sind alle nach Amerika ausgewandert und haben dort ihr Leben fristen können. Aber sie hatten nicht das Geld, nach Deutschland zurückzukommen. Meine Eltern haben immer viel von diesen Freunden erzählt. Die waren sehr lebendig, sehr präsent. Aber ich habe das nie mit Theorien in Verbindung gebracht.

Ein Name, der für uns sehr wichtig war, eigentlich in all unseren Denkbewegungen, ist bisher noch nicht gefallen, der von Georg Lukács. Ich habe mich oft gefragt, woher der außerordentliche harte Duktus der Theorie der Avantgarde kommt, den es so in keinem meiner Texte gibt. (Das ist mir noch einmal deutlich geworden anlässlich der französischen Übersetzung von Jean-Pierre Cometti, die wir begleitet haben und dabei sehen konnten, wie daraus ein elegantes französisches Buch wurde.) Das Vorbild meiner Theoriesprache damals war vermutlich das Verdinglichungskapitel aus Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein, das mich wegen seiner stringenten Konstruktion und strengen Argumentation faszinierte, obwohl mich der dogmatische Marxismus dieses Buches abgestoßen hat.

CB: Diese Faszination rührte aber auch – ähnlich wie im Fall von Horkheimer und Adorno –daher, dass das nicht nur Autoren von einflussreichen Theorien gewesen sind, sondern wirkliche Gestalten. Ich habe das Gefühl, dass es unserer Generation an solchen Gestalten fehlt, Menschen, die mit Leidenschaft hinter dem stehen, was sie denken.

 

PB: Dazu eine kleine Anekdote. Horkheimer hat einmal einen Vortrag in Bonn gehalten, ich glaube, es war 1967 oder 68. Es war kein revolutionärer Vortrag, aber diese Gestik! Und diese Gestik habe ich wiedergefunden in einem kleinen Seminar, wo Hans-Georg Gadamer mit seinen Schülern, die inzwischen Professoren geworden waren, diskutierte. Er hat sofort mich als den Gegner ausgemacht, hat also wild diskutiert und gestikuliert. Er wollte mich von meinen Habermas’schen Abwegen zurückbringen zur guten alten Hermeneutik. Es war wundervoll! Seine Schüler sind kluge Leute, aber gegenüber dem alten Gadamer verblassen sie.

 

Um noch einmal auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Theoriebegeisterung und der jüdischen Zugehörigkeit vieler damals gelesenen Autoren zurückzukommen und was ich damit sagen wollte: Herr Bürger, Sie haben in dem neuen Nachwort zur Theorie der Avantgarde geschrieben, die »Umstände unter denen eine Theorie entsteht (...) haben mit dieser nichts zu tun. Sie fallen von ihr ab, wenn die Theorie steht. Sie sind das belanglose, was bestimmt ist, vergessen zu werden«. Ich bin mir nicht sicher, ob man diese These, wenn man die Rede vom Geschichtskern bei der Kritischen Theorie ernst nimmt, durchhalten kann. Die Geltung geht natürlich nicht in der Genesis auf, sie sind durchaus getrennt. Aber egal ist es nicht, unter welchen Umständen eine Theorie entsteht.

 

CB: Ich kann Ihre Argumentation gut nachvollziehen, aber die etwas abwehrenden Sätze, die Sie zitieren, wollen darauf insistieren, dass es um den Text geht, nicht um die Person von Peter Bürger.

 

PB: Ich wollte nicht, dass das neue Nachwort ins bloß Biografische abgleitet. Ich habe das Buch 1971/73 geschrieben; es ist relativ schnell entstanden, vielleicht wirklich, weil dahinter intensiv gelebtes Leben stand. Es war der Impuls von '68, dem sich der Rhythmus des Buches verdankt. Ich habe Thomas Hettche in dem Brief-Nachwort ja gestanden, dass es wirklich eine Epoche gab, in der die Theorie unser Leben war.

 

Das Buch ist ja in sehr viele Sprachen übersetzt worden, auch außerhalb Europas, obwohl Sie ja von einem deutlich europäischen Kanon ausgehen. Haben Sie die Rezeption außerhalb Europas verfolgt? Ist Ihre Auseinandersetzung mit den Avantgarden übertragbar, beispielsweise auf einen Kontext wie in Lateinamerika? Dort ist ja die Vermischung von Hochkultur und indigener bzw. populärer Kunst sehr wichtig.

 

PB: Ich habe das nicht konsequent verfolgt.

 

CB: Wir sind seit Mitte der achtziger Jahre nur noch in wenigen Fällen Einladungen zu Kongressen gefolgt. Wir hielten überhaupt dieses Herumreisen für einen Irrtum.

 

PB: Man muss sich irgendwann entscheiden, ob man lehren, denken und schreiben oder sich einen Namen machen will.

 

CB: Nur so konnten wir die Lebensform, die wir gewählt hatten, verwirklichen. Und wir konnten dem Titel, den Tanja Kunz dem Marbacher Bürger-Symposium gegeben hat, zustimmen: Lebensform Kritik und während zweier Tage erleben, dass es eine lebendige Theoriegeschichte zu erzählen gab.

 

PB: Dein Weg durch die Literaturwissenschaft war ja ein Anfang.

 

CB: Und der Verlust der Theorie in den Tränen des Odysseus war ein innerer Monolog des sterbenden Adorno, der dich in diesen letzten Wochen, die uns verblieben sind, beschäftigt hat, es könnte dir »die Zeit« nicht reichen, um die Rettung der Kunst zu »denken«.

 

Herr Bürger, Frau Bürger, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Das Gespräch mit Christa und Peter Bürger fand am 21. Juni 2017 in Berlin statt. Die Fragen stellten Johanna Best und Robert Zwarg. Am 11. August 2017 verstarb Peter Bürger im Alter von 80 Jahren.