Die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector (zweite von links) bei der Demonstration gegen die Militärdiktatur am 22. Juni 1968 in Rio de Janeiro, an der auch Milton Nascimento, Glauce Rocha, Ziraldo und Oskar Niemeyer teilnehmen. (Instituto Moreira Salles, Rio de Janeiro, Brasilien, Fotograf unbekannt)

Clarice Lispector als Unterstützerin der brasilianischen Studentenbewegung in Brasilien

„Marsch der Hunderttausend“: Am 26. Juni 1968 treffen sich über hunderttausend Menschen in Cinelândia, im Zentrum von Rio de Janeiro, Brasilien, um gegen die neuen, eskalierenden Repressionen des Militärs zu demonstrieren. Der brutale Mord an zwei Studenten durch die Militärpolizei am 28. März desselben Jahres hatte das ganze Land erschüttert und zu zahlreichen Protesten geführt.

Fünf Tage vor dem berühmten Protestmarsch, am Freitag den 22. Juni 1968, wurden bei Konfrontationen zwischen der Polizei und den Demonstranten vier weitere Personen ermordet, über fünfzig verletzt und tausende Teilnehmer/innen von Agenten der Diktatur-Geheimpolizei (DOPS) festgenommen. Nach dem 22. Juni, der als „blutiger Freitag“ in die Geschichte des Landes einging, marschieren nicht nur die Studenten und Arbeiter, sondern ebenfalls circa dreihundert Intellektuelle und Künstler/innen bis zum Palácio da Guanabara, um die Regierung dazu zu drängen, für die Studierenden Stellung zu beziehen. An diesem Tag ist neben Künstlern wie Oscar Niemeyer und Milton Nascimento auch Clarice Lispector zu sehen.

Die Schriftstellerin, damals Mitarbeiterin am Staatssekretariat von Rio de Janeiro und Gutachterin am Instituto Nacional do Livro, engagierte sich aktiv gegen die Diktatur. Sie hat die oppositionelle Bewegung nicht nur durch die Teilnahme an der Demonstration unterstützt, sondern auch auf schriftlichem Weg. Bereits am 17. Februar 1968 hat Lispector einen offenen Brief an den damaligen Bildungsminister veröffentlicht, in dem die angespannte Atmosphäre der eskalierenden Repression zu lesen ist. Neben ihrer Kritik am prekären Zustand der Bildung in Brasilien erklärt sie, dass „die Studenten auch nicht auf die Straße gehen [um gegen diese Zustände zu protestieren], weil sie wissen, dass die Polizei sie verprügeln könnte.“ (LISPECTOR, Clarice. “Carta ao Ministro da Educação” In: Jornal do Brasil, 17. Februar 1968)

Die Proteste hielten bis Ende 1968 an. Am 13. Dezember 1968 reagierte die Militärregierung mit noch repressiveren Mitteln. Mit dem Dekret AI-5 begann eine harte und lange Zeit der brasilianischen Militärdiktatur, die fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist und bis heute nicht aufgearbeitet wurde. Das Dekret ermöglichte durch Ausnahmegesetze eine systematische und weitreichende Zensur der Presse- und Verlagsarbeit sowie die Institutionalisierung der Folter als Staatsinstrument und letztendlich die unmittelbaren Schließung des Parlaments. Doch der sogenannte „Marsch der Hunderttausenden“ gilt heute als die symbolisch bedeutsamste Demonstration in der Geschichte der Studentenbewegung in Brasilien. Die wachsende Bewegung destabilisierte von April bis Juni 1968 die Militärregierung stark, und brachte dadurch - ähnlich wie bei den Pariser Mai-Demonstrationen - Arbeiter, Studenten und Intellektuelle in einem kurzen Zeitraum auf der Straße zusammen.

Das Foto vom 22. Juni 1968, das sich im Nachlass von Clarice Lispector befindet, der im Moreira Salles Institut (IMS), Rio de Janeiro, aufbewahrt wird, zeigt die heute weltberühmte Schriftstellerin kurz bevor ihr Werk in Deutschland bekannt wurde. Nach einer eher marginalen Rezeption in Frankreich erschienen 1964 und 1966 Apfel im Dunkeln und Nachahmung der Rose beim Claassen-Verlag als die ersten deutschen Übersetzungen von Clarice Lispector in der BRD.

Ab den 1980er Jahren entstand  beim Suhrkamp Verlag insbesondere durch die Publikationen Vivre L’Orange (1979) und später L’heure de Clarice Lispector (1989) von Hélène Cixous ein starkes Interesse für Lispectors Romane. Anhand der Materialien des Siegfried Unseld Archivs am Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) ist es heute möglich, die Rezeptionsgeschichte zu rekonstruieren. Sie beginnt allerdings mit einer Ablehnung seitens des sogenannten Lateinamerika-Lektorats:„[W]ir danken Ihnen für die Zusendung und bedauern, dass sich die genannten Titel nicht in unser Verlagsprogramm einfügen lassen“, antwortete das Lektorat am 25. Januar 1973 an die Literaturagentur Carmen Balcells in Barcelona auf die Zusendung eines Pakets mit Werken von Clarice Lispector.

Bis 1996 erschienen doch insgesamt sechs Titel von Lispector in der Bibliothek Suhrkamp.

Douglas Valeriano Pompeu
wiss. Koordinator, DLA
douglas.pompeu@dla-marbach.de