Bildunterschrift: Gutachten von Karl Markus Michel zur Wiederveröffentlichung, DLA Marbach, Foto: Chris Korner.

Späte Lektüre


Späte Lektüre

Das Gutachten, das Karl Markus Michel 1963 für den Suhrkamp Verlag über eine Reihe älterer Essays des Sozialphilosophen Max Horkheimer verfasste, ist nicht nur bemerkenswert, weil es das generationelle Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler umkehrt, indem der 1929 geborene Suhrkamp-Lektor die früheren Arbeiten des 34 Jahre älteren Mitbegründers der Kritischen Theorie beurteilt. Es ist auch deshalb aufschlussreich, weil hier in einer betriebsinternen Textsorte über Horkheimers Arbeiten aus der Zeit des Exils mit jener Fähigkeit zur Historisierung gearbeitet wurde, die Horkheimer den Angehörigen von Michels Generation damals nicht mehr zutraute. Siegfried Unseld hatte sich 1963 mit der Bitte an Horkheimer gewandt, Essays aus der Zeit des amerikanischen Exils neu zu publizieren, die seitdem nicht zugänglich waren und an denen Angehörige der jungen Studentengeneration Interesse hegten. Der von Unseld bevorzugte Ort einer solchen Publikation wäre die Edition Suhrkamp gewesen, da sie einen niedrigen Ladenpreis und eine große Resonanz in der studentischen Zielgruppe sichergestellt hätte. Horkheimer indes war gegenüber einer Neupublikation eigener Texte aus jener Zeit skeptisch, weil darin linkssozialistische Positionen, denen er in der Weimarer Republik nahegestanden hatte, hörbar nachhallten. Das Versagen der sozialistischen Parteien und der Arbeiterbewegung in Deutschland angesichts der Machtübertragung an die Nationalsozialisten hatte für ihn spätestens seit 1942 jede ungebrochene Bezugnahme auf Denkform und Terminologie des Linkssozialismus und orthodoxen Marxismus fragwürdig gemacht. Neben der mit Adorno geschriebenen Dialektik der Aufklärung, die 1944 erschien, zeugt davon der zwischen 1940 und 1942 in mehreren Bearbeitungen entstandene Essay Autoritärer Staat, in dem die Marx’schen Begriffe bereits problematisch sind.

 

Michel jedoch liest Horkheimers frühe Essays – anders als viele Intellektuelle seiner Generation – nicht als Funde aus einer marxistischen Schatzkammer, die durch den Zivilisationsbruch verschüttet wurden und geborgen werden müssen, sondern als Dokumente einer unwiderruflich historisch gewordenen Zeit. Das dämpft die Emphase und trägt dazu bei, dass er die Texte als Zeugnisse einer geistigen Entwicklung ernst nimmt, statt sie auf ihren zeitgenössischen Nutzwert zu reduzieren. Indem er die Essays nüchtern als Schritte auf Horkheimers Weg vom »professionellen Materialisten« zum »dialektischen Philosophen« deutet, hält Michel negativ fest, dass der Fortschritt in Horkheimers Denken seit der Distanznahme vom Linkssozialismus eine Kritik am Selbstverständnis des Marxismus als positiver Wissenschaft voraussetzte. Durch sein Urteil, dass die Frage, »wie Horkheimer heute zu seinen materialistischen Jugendträumen steht«, sich durch die immanente Entwicklungslogik der Essays beantworte, jedoch für »törichte Professoren und Studenten« von Horkheimer »in einem Vorwort« aufgegriffen werden solle, plädiert Michel für eine historisierende statt für eine aktualisierende Publikation und kommt damit den Bedingungen, an die Horkheimer eine Neuveröffentlichung band, ziemlich nahe. Doch da sich Horkheimer direkt mit Unseld über das Buchvorhaben austauschte und Michel ihn nicht persönlich kontaktierte, trugen die Konvergenzen der Sichtweise des Jüngeren und des Älteren keine Früchte. Nachdem Unseld im Juli 1963 die von Michel vorgeschlagene »[f]reie Anordnung ohne die Materialismus-Aufsätze« Horkheimer als favorisierte Struktur des Bandes vorgeschlagen hatte, schob dieser seine Entscheidung über die Publikation ein weiteres Dreivierteljahr auf, woraufhin die Kommunikation mit Unseld im Sande verlief.

 

Für Horkheimer wurde der Suhrkamp Verlag nie eine publizistische Heimstatt, für Michel blieb er es nur eine Zeit lang. Horkheimer, der nach dem Scheitern des Publikationsvorhabens bei Suhrkamp mit S. Fischer eine Neuauflage seiner Essays aus den 1930er und 1940er Jahren vereinbart hatte, zog sich auch aus dieser Vereinbarung zurück, begründete seine Entscheidung aber anders als gegenüber Suhrkamp in einem Brief, der 1965 im Almanach des S. Fischer Verlags veröffentlicht wurde. Darin schrieb er, der Nationalsozialismus sei »keine Ungereimtheit, vielmehr Signal des Totalitären« gewesen, das auch »diesseits des Eisernen Vorhangs«  als »zeitgemäß« erscheine; der »auf Analyse der Gesellschaft damals« bauende Glaube an »fortschrittliche Aktivität« sei umgeschlagen in »Angst vor neuem Unheil«. Intellektuelle hätten »dem Glauben an die nahe Verwirklichung der Ideen westlicher Civilisation zu entsagen und für die Ideen trotzdem einzustehen«, fügte er gegen Versuche unmittelbarer Aktualisierung seiner früheren Schriften hinzu. Ab 1970 begann er bei S. Fischer tatsächlich mit historisierenden Einleitungen versehene Sammlungen älterer Texte herauszubringen, die in ihrem dokumentierenden Charakter den Ansprüchen gerecht wurden, die Michel sieben Jahre zuvor in seinem verlagsinternen Gutachten formuliert hatte. Mit dem Unterschied allerdings, dass Horkheimer in seine Sammlungen nun auch Texte aus der Zeit nach 1937 bis an den Rand der damaligen Gegenwart aufnahm. Der 1972 erschienene Band Sozialphilosophische Studien enthielt die Aufsätze und Vorträge von 1930 bis 1972, die im gleichen Jahr ebenfalls bei Athenäum/Fischer erschienene Sammlung Gesellschaft im Übergang die aus der Zeit von 1942 bis 1970. Während diese Selbstdokumentationen in genau den Jahren, als die Edition Suhrkamp zum Publikationsforum der Neuen Linken wurde, Horkheimers schroffe Distanz zur Studentenbewegung bezeugten, denen er kein Material zur Identifikation liefern wollte, wurde Michel zu einem intellektuellen Wegbereiter der Achtundsechziger-Bewegung. Als Begründer des Kursbuch gemeinsam mit Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1965, publizierte Michel dort in den Jahren bis 1967 die Artikelserie Die sprachlose Intelligenz, die 1968 in der Edition Suhrkamp erschien. Horkheimers paradoxe Formel aus dem Brief an Fischer, die Intellektuellen hätten jeder revolutionären Naherwartung zu entsagen, und dem Begriff der Zivilisation die Treue zu halten, zitierte Michel darin als Beispiel für eine »deutsche Intelligenz«, die »freiwillig ins Exil gegangen« sei und den Glauben an das eingreifende Denken verloren habe. Dafür, dass Horkheimers Glaubensverlust seinen Grund in dem durch Verfolgung erzwungenen Exil hatte, schien Michel ebenso blind zu sein wie andere Angehörige seiner Generation. Den historischen Blick auf Horkheimers Texte hatte er trotzdem nicht verloren. Die Tatsache, dass er in einem Suhrkamp-Buch aus Horkheimers Absageerklärung an Fischer zitierte und damit das abgebrochene Editionsvorhaben bei Suhrkamp in Erinnerung rief, lässt sich vielmehr als Referenz auf den unausgetragenen Konflikt zwischen Historizität und Aktualität revolutionären Denkens verstehen.

 

1976, drei Jahre nach Horkheimers Tod, gründete Michel mit dem Suhrkamp-Lektor Axel Rütters die Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft, die nicht nur programmatisch, sondern auch betrieblich, als Autorenverlag auf der Basis einer Kommanditgesellschaft, jenen Begriff radikaler Aufklärung und individueller Freiheit bewahren sollte, den seine Gründer durch den Suhrkamp Verlag preisgegeben sahen. Die Biografien von Horkheimer und Michel bezeugen gerade in ihrer Unähnlichkeit, dass die geläufige Identifikation von Suhrkamp als das wichtigste intellektuelle Forum der Achtundsechziger nur die halbe Wahrheit trifft.

 

Magnus Klaue, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (Leipzig)