Promovieren „weit ab[…] von der Germanistik“. Friedrich Kittlers Semesterbrief vom Sommer 1971 an die Studienstiftung des Deutschen Volkes

 

 

Promovieren „weit ab[…] von der Germanistik“. Friedrich Kittlers Semesterbrief vom Sommer 1971 an die Studienstiftung des Deutschen Volkes

Zu sehen ist der Semesterbrief vom Sommer 1971, in dem Friedrich Kittler die Studienstiftung des Deutschen Volkes über seine akademischen Fortschritte informiert. Kittler befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits am Ende seines Studiums der Germanistik, Romanistik und Philosophie. Dementsprechend berichtet der Brief zuerst von den im vergangenen Semester belegten Veranstaltungen, und danach von seinen Plänen zu einer Dissertation über Conrad Ferdinand Meyer (Kittler, Friedrich: Der Traum und die Rede. Eine Analyse der Kommunikationssituation Conrad Ferdinand Meyers, Bern 1977). Das Dokument ist also nicht zuletzt deshalb aufschlussreich, weil es zeigt, wie ein angehender Doktorand, der 1968 als fortgeschrittener Student erlebt hatte, sich selbst und seine germanistische Doktorarbeit entwarf.

Mit einer rebellischen Distanzgeste gegenüber der akademischen Tradition setzt der zweite Teil des Semesterbriefs ein. Man erfährt, dass Kittler sich kein Dissertationsthema hat „nahe[legen]“ lassen, wie bis in die 1960er Jahre üblich, sondern sich selbst auf die Suche nach geeignetem literarischen Material begeben hat, was ihn, so Kittler, „weit abzuführen [schien] von der Germanistik“; also von dem, was er im Studium gelernt hatte.
Auch seine Selbstpräsentation als nonchalanter Leser zeugt eher von einer pragmatischen als einer emphatischen Haltung gegenüber der germanistischen Disziplin und ihren Gegenständen. Selbst über den Autor Conrad Ferdinand Meyer, für den sich Kittler letztlich entschied, sei er regelrecht gestolpert („Ich verfiel“). Derartige Formulierungen weisen angesichts ihres historischen Kontexts auf eine deutliche Verschiebung literaturwissenschaftlicher Prioritäten hin. Schließlich dominierte in der bundesdeutschen Germanistik bis Ende der 1960er Jahre die hermeneutische Methode, die die intensive Ergründung besonders geschätzter Texte zum Ziel hatte. Kittler legt im Semesterbrief hingegen keine Lektürehaltung der einfühlenden Nähe an den Tag, sondern eine der lakonisch distanzierten Bestandsaufnahme.

Diese Veränderung des literaturwissenschaftlichen Textbezugs gegen Ende der 1960er Jahre hat nicht zuletzt einen mediengeschichtlichen Hintergrund. Auch diesen ruft das Schreiben an die Studienstiftung auf: Denn auf ein Buch wie Jean Paul Sartres „L’Idiot de la famille“, „das endlich erschien“, wie Kittler in seinem Semesterbrief schreibt, fieberte er ja nicht zuletzt deswegen hin, weil die Taschenbuchrevolution um 1968 den Buchmarkt entscheidend transformiert und dadurch die Neugier eines jungen Publikums auf Neuerscheinungen erheblich gesteigert hatte.
Doch trotz dieser rebellischen Geste schlägt Kittlers Semesterbrief auch subtilere Töne an, und zwar gerade im Hinblick auf die Hermeneutik („immanente Interpretation“), die nicht zuletzt Kittlers Doktorvater, Gerhard Kaiser, als Mitglied einer von den Studierenden kritisierten Professorenschaft immer noch vertrat. Kittlers Argumentation diesbezüglich ist durchaus intrikat: Den vom Meyer’schen Werk (und vielleicht auch von Kaiser) gestellten „Anspruch auf ausschließlich immanente Interpretation“ gelte es in der Dissertation „zu erfüllen und doch zugleich zu hintergehen“. Diese Ankündigung ist keine bloße Spitzfindigkeit, vielmehr ist sie zur Methode geronnener Ausdruck neuer Promotionsbedingungen, die die Jahre um 1968 geschaffen haben. Denn die Hermeneutik galt zwar, auch jenseits einer neuen Buch- und Lesekultur, seit dem Germanistentag in München 1966 und den folgenden Jahren der studentischen Revolte für viele als veraltet und international nicht anschlussfähig, ja sogar als politisch problematisch, weil sie blind sei für die NS-Vergangenheit der Germanistik (vgl. Boehlich, Walter: „Der deutsche Germanistentag. Aufforderung das Kind mit dem Bade auszuschütten“, in: Die Zeit Nr. 44, 1966). Doch fußte der Ruhm der mittlerweile zwar kritisierten, jedoch einflussreichen Professoren und potentiellen Doktorväter, gerade auf hermeneutischen Studien, die lange vor den Jahren der Revolte entstanden waren. Eine germanistische Dissertation nach 1968 zu schreiben, bedeutete dementsprechend, trotz aller Rebellionsrhetorik, eine doppelte Anforderung zu erfüllen: Einer Debatte um die Disziplin gerecht zu werden, die neue literaturwissenschaftliche Zugänge für nötig befand, sowie die Anforderungen methodisch konservativ positionierter Doktorväter zu befriedigen.

 

Katharina Kreuzpaintner, Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin (Berlin)